Studie: Geringere Lesekompetenz in den 4. Klassen nach Corona-bedingten Einschränkungen
Die Corona-Pandemie hat schulische Bildungsprozesse weltweit beeinträchtigt. Ein Forschungsteam am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund unter der Leitung von Prof. Dr. Nele McElvany hat nun erstmalig wissenschaftlich repräsentative Daten zum Stand der Lesekompetenz von Viertklässlern vor und während der COVID-19- Pandemie vorgelegt. Die Forschenden stellten fest, dass sich die mittlere Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern in der vierten Klassenstufe im Jahr 2021 von der Lesekompetenz Gleichaltriger vor der Pandemie unterscheidet.
Seit März 2020 hat das Coronavirus bedeutenden Einfluss auf das alltägliche Leben und das Schulwesen. Doch hatte der häufige Wechsel zwischen Distanz- und Präsenzunterricht mit unterschiedlichen hybriden Varianten Auswirkungen auf den Kompetenz- erwerb von Schülerinnen und Schülern? Mit dieser Frage hat sich nun ein Forschungsteam am Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund mit Blick auf die für Bildungsprozesse grundlegende Kompetenz des Lesens beschäftigt. Anhand von repräsentativen Daten einer IFS- Schulpanelstudie mit insgesamt über 4.000 Kindern in den Jahren 2016 und 2021 an 111 ausgewählten Grundschulen in Deutschland hat das Team mit Hilfe der IGLU-Tests untersucht, wie sich die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern in der vierten Klassenstufe in Deutschland im Jahr 2021 von der Lesekompetenz Gleichaltriger vor der Pandemie unterscheidet.
Schülerinnen und Schülern fehlt rund ein halbes Lernjahr nach coronabedingten Einschränkungen der Beschulung
Die Daten weisen darauf hin, dass die Lesekompetenz der Kinder im Jahr 2021 mit 980 Punkten im Mittel deutlich geringer ist als noch 2016 mit 1.000 Punkten. Zum Zeitpunkt der Erhebungen lagen hinter den Schülerinnen und Schülern über ein Jahr pandemiebedingte Einschränkungen. „Drückt man es in Lernjahren aus, fehlt den Kindern im Durchschnitt etwa ein halbes Lernjahr. Wird die Veränderung in der Zusammensetzung der Schülerschaft berücksichtigt, wird die Lücke zwar etwas kleiner, der signifikante Rückgang der mittleren Lesekompetenz bleibt jedoch“, erläutert Dr. Ulrich Ludewig, Co-Leiter der Studie.
Weniger gute, mehr schwache Schülerinnen und Schüler
Die Ergebnisse zeigen, dass der Anteil an Grundschülerinnen und -schülern, die gut bis sehr gut lesen können, im Vergleich zum Jahr 2016 um rund sieben Prozent auf 37 Prozent gesunken ist. Der Anteil derjenigen, die Probleme mit dem Lesen und dem Textverständnis haben, nahm dagegen um sechs Prozent auf insgesamt 28 Prozent zu. „Da Lesen eine zentrale Kompetenz darstellt, hat dieses Ergebnis auch Auswirkungen auf alle anderen Schulfächer“, betont Nele McElvany.
Das Kompetenzniveau ist bei unterschiedlichen Schülergruppen gesunken
Der Rückgang des mittleren Kompetenzniveaus betrifft alle untersuchten Schülergruppen. So sind zwar Mädchen im Lesen im Mittel weiterhin stärker als Jungen, allerdings sank das durchschnittliche Leseniveau beider Gruppen. Ähnlich sieht es aus, wenn der soziokulturelle Hintergrund fokussiert wird: Kinder aus Familien mit mehr als 100 Büchern zuhause können im Schnitt besser lesen als solche mit weniger Büchern, aber die mittlere Lesekompetenz beider Gruppen ist in ähnlichem Maße geringer als noch 2016. Kinder mit schlechten häuslichen Rahmenbedingungen zum Lernen – kein eigener Schreibtisch und kein Internetzugang – verlieren allerdings im Schnitt mit 27 Punkten mehr als Kinder mit guten Rahmenbedingungen (16 Punkte). Vergleicht man schließlich die Gruppen der Grundschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund, so hat die Lesekompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund im Mittel tendenziell stärker unter der Pandemie gelitten. Das Ergebnis kann nicht statistisch gegen den Zufall abgesichert werden, aber die Zahlen zeigen deskriptiv eine deutliche Vergrößerung des Unterschieds der mittleren Leseleistungen: Lagen Kinder, die im Ausland geboren sind, 2016 im Mittel noch 46 Punkte hinter Kindern mit Deutschland als Geburtsland, so beträgt dieser Unterschied 2021 durchschnittlich 63 Punkte und damit rund 1,5 Lernjahre.
Ergebnisse sind alarmierend
Die aktuelle Schülergeneration in Deutschland zeigt generell eine wesentlich geringere Lesekompetenz als noch vor fünf Jahren – das ist alarmierend. Um diese Lücke wieder zu schließen, kommt es auf umfassende und wirksame Unterstützungs- und Förderangebote an, schreibt das Forschungsteam in seinem Bericht (verfügbar unter www.tu- dortmund.de/ifs-schulpanel). „Die hier untersuchten Kinder besuchen aktuell die fünfte Klassen- stufe – neben den Grundschulen müssen für die Leseförderung also auch die weiterführenden Schulen systematisch mitgedacht werden“, sagt Nele McElvany. Mit Blick auf mögliche zukünftige Krisen gilt es bei bildungspolitischen und pädagogischen Entscheidungen Aspekte wie das selbstregulierte Lernen in eher distanzorientierten Lehr-Lern-Kontexten sowie die Arbeit mit digitalen Medien als Schlüsselstellen mitzudenken.
Zur Studie: Die IFS-Schulpanel-Analysen basieren auf den Antworten von 2.208 Viertklässler*innen im Jahr 2016 und 2.082 Viertklässler*innen im Jahr 2021 aus 111 Grundschulen in Deutschland. Alle Schulen nahmen an IGLU 2016 teil und wurden fünf Jahre später für die IFS-Schulpanelstudie erneut mit einem standardisierten Lesetest der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) untersucht. Damit bestand erstmals die Möglichkeit, die mittlere Lesekompetenz von Kindern am Ende der Grundschulzeit an den gleichen Schulen zu den Zeitpunkten vor der Pandemie und nach mehr als einem Jahr der Beschulung unter Pandemiebedingungen im Vergleich zu analysieren. Das dieser Veröffentlichung (“COVID-19 Pandemic and Student Reading Achievement – Findings from a School Panel Study” – verfügbar unter: https://psyarxiv.com/) zugrunde liegende Vorhaben wird mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland zu gleichen Anteilen gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und Autoren.
Institutsportrait: Das interdisziplinäre Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund ist als Forschungseinrichtung an der Schnittstelle von Wissenschaft, schulischer Praxis und Politik angesiedelt. Die durch vier Professuren und rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gestalteten Forschungsbereiche des Instituts arbeiten zu aktuellen Themen im Bereich der Empirischen Bildungsforschung mit dem Ziel, schulische Lern- und Entwicklungsprozesse, Schulentwicklung und Bildungsergebnisse im Kontext ihrer individuellen, sozialen und institutionellen Bedingungen zu erfassen, zu erklären und zu optimieren. Das IFS trägt mit seiner Arbeit wesentlich den Profilbereich Bildung, Schule und Inklusion der TU Dortmund mit.